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Der Hirte vor der Tür

(Teil einer Videoandacht vom 26.04.2020)

Es klingelt. Ich streife meinen Mund-Nasenschutz über und öffne. Vor der Haustür steht ein Hirte. Ich schließe meine Augen und öffne sie wieder. Der Hirte ist immer noch da. Ich schaue ihn fragend an.

"Ich suche ein Schaf." sagt er. "Mir fehlt noch eines."

"Da sind Sie falsch.", sage ich. "Versuchen Sie es doch mal in Hungen, der Schäferstadt."

Er lacht. Ein fröhliches Lachen. "Nein, ich bin hier schon richtig."

"Aber bei uns gibt es keine Schafe.", entgegne ich.

Er schaut mich amüsiert an. "Sicher nicht?"

Mir dämmert etwas. "Soll ich etwa…?" frage ich.

Er schmunzelt. "Es könnte nicht schaden."

"Aber ich möchte eigentlich kein Schaf sein. Brav sein und immer mit der Herde ziehen – das ist nichts für mich..."

"Willst du lieber mit den Wölfen heulen?"

"Bloß nicht!"

Wieder lacht er. "Immer nur Pastor, Hirte, zu sein – das hältst du nicht durch. Du brauchst den Psalm 23."

"Den brauche ich ständig in der Gemeinde.", sage ich. "Den kann ich sogar auswendig."

"So?" Er schmunzelt wieder. "Dann lass mal hören."

Ich schließe meine Augen und konzentriere mich:

"Der HERR ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln.

Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser.

Er erquicket meine Seele.

Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen.

Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich.

Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein.

Gutes und Barmherzigkeit werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Hause des HERRN immerdar."

"Bravo!", sagt er – und ich meine, einen Anklang von Ironie in seiner Stimme zu hören. "Und wo kommst du darin vor?", fragt er.

"Ähm… Wird das jetzt eine Prüfung?", frage ich.

"I wo.", lacht er. "Es hat mich nur interessiert. So ein bisschen Schaf versteckt sich doch auch in jedem Pastor."

"Und das suchen Sie? Und stehen deshalb vor unserer Haustür?"

"Nicht nur da, auch anderswo."

"Was müsste ich denn so tun als Schaf?" frage ich vorsichtig.

"Wenig und viel.", ist die rätselhafte Antwort.

 

Im nächsten Moment sitze ich an einem wunderschön und liebevoll gedeckten Frühstückstisch. In unserem Hof, in der warmen Morgensonne. Es duftet nach frischem Kaffee und Brot. Ein bunter Frühlingsstrauß leuchtet zwischen leckerem Essen.

Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Jetzt erst merke ich, wie hungrig ich bin.

Der Hirte steht daneben, auf seinen Stock gestützt. Er sieht auf einmal ein bisschen wie ein Butler aus.

"Lass es dir schmecken!", sagt er.

Ich strecke meine Hand nach der Kaffeekanne aus. Aber jedesmal wenn ich zugreifen will, verschwindet der Tisch und ich greife in die Luft.

"Hast du nicht etwas vergessen?" fragt er mich.

"Stimmt! Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir ein.", sage ich, stehe auf und gehe los.

Als ich wieder am Tisch sitze, ist er zu einer langen Tafel geworden. Alle, die mit mir gekommen sind, haben Platz gefunden. Für alle ist genug da. Da sitzen sie: Nachbarn. Andere aus dem Dorf. Auch solche, die ich nicht kenne. Mit dunkler Haut. Mit asiatischem Einschlag. Alle lassen es sich schmecken. Speisen wandern hinauf und hinunter. Werden empfohlen und probiert. Es wird gelacht. Und geweint und getröstet und geschwiegen. Bis tief in die Nacht. Und der Wein geht nicht aus und nicht das Wasser und nicht das Brot und nicht das Gespräch.

Ich halte Ausschau nach dem Hirten. Er ist verschwunden. Nur seinen Hirtenstock hat er da gelassen...

                                                                          Johannes Fritzsche

Die gesamte Ansprache in gedruckter Form:

Das Video mit der ganzen Andacht (14 min):


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