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Die Bellersheimer Pfarrchronik

In der Pfarrchronik haben die Bellersheimer Pfarrer Ereignisse in der Gemeinde, besondere Vorfälle, Begegnungen und auch zeitgeschichtlich Politisches notiert, um es für die Nachwelt zu erhalten.

In Sütterlin geschrieben, muss(te) vieles mühsam entziffert werden. Deshalb ist die Pfarrchronik hier (noch nicht) komplett nachzulesen. Auch deshalb nicht, weil manches natürlich nur für NachfolgerInnen auf der Pfarrstelle bestimmt ist und hier nicht öffentlich gemacht werden kann. Aber es bleibt genug, das sicher für Bellersheimer (aber auch andere LeserInnen) interessant ist und bei Älteren Erinnerungen weckt.

So wirkte zum Beispiel von 1926 bis 1949 August Gerich als Gemeindepfarrer in Bellersheim. Erlebnisse und Bemerkenswertes schrieb er in der Bellersheimer Pfarrchronik nieder. Gerade für die Zeit des Dritten Reiches ist das höchst aufschlussreich.

1933

Witterung
Der Winter setzte sehr spät ein, erst Mitte Januar, dauerte aber dann mit einer kurzen Unterbrechung bis Ende Februar, war jedoch ohne Schnee.
Das Frühjahr war bei Fehlen von Winterfeuchtigkeit und mangelndem Regen sehr trocken.

Gemeindeabend
Am 19. Februar fand ein Gemeindeabend statt, bei dem Pfr. Dr. Heymann von Langsdorf einen sehr interessanten Vortrag hielt über das Thema: "Graf Wilhelm Moritz von Braunfels und sein Land."
Der Redner berichtete in diesem Vortrag über einen Prozeß, den die Gemeinden des Hungener Landes, darunter besonders stark beteiligt Bellersheim, mit ihren Landesherrn führten.
Die Gemeinden waren zu Frondiensten nach Hungen verpflichtet. Seitdem aber Hungen aufgehört hatte, Residenz zu sein, brauchten auch diese Dienste nicht mehr geleistet zu werden.
Graf Wilhelm Moritz, der Geld brauchte, suchte nun seine Einkünfte dadurch zu mehren, daß er die Arbeitsverpflichtungen, die die Bürger hatten, in Geldleistungen umwandelte. Dagegen wehrten sich die Gemeinden in einem Prozeß, der 20 Jahre dauerte. Der Prozeß ging für die Gemeinden ungünstig aus.
Ausführlicheres siehe Heimatglocken Jahrgang 1936 No 8ff.

Polit. Umschwung
Am 30. Januar hatte Reichspräsident v. Hindenburg den Führer der nationalen Opposition, Adolf Hitler, zum Reichskanzler ernannt.
Der Reichstag wurde aufgelöst und Neuwahlen zum 5. März ausgeschrieben. Diese brachten den Nationalsozialisten eine große Mehrheit. Mit 288 Sitzen zogen sie in den Reichstag ein. Sie hatten damit mit den Deutsch-Nationalen die absolute Majorität.
Am 21. März wurde der neugewählte Reichstag in der Garnisonkirche zu Potsdam - das Reichstagsgebäude war vorher von frevelhafter Hand in Brand gesteckt worden - eröffnet.
In der Gemeinde wurde der Tag von Potsdam am Abend des 21. März durch einen Fackelzug gefeiert. Dabei hielt Lehrer Philipp - der Berichterstatter war an dem Tage in der Gemeinde nicht anwesend - die Ansprache.

Feier des 1. Mai als Tag der nationalen Arbeit.

Gleichschaltung...
Alle linksgerichteten polit. Vereine wurden aufgelöst und ihr Vermögen eingezogen. Alle anderen Vereine und Organisationen wurden "gleichgeschaltet" d. h. alle Stellen in Leitung und Führung durften nur noch von Nationalsozialisten besetzt sein.

...auch der Kirche
Was der Reichskanzler mit seiner eigenen, der kathol. Kirche, nicht unternahm, wurde bald in der evang. Kirche in Angriff genommen: der Versuch der Gleichschaltung.
Zunächst mußte der evang. Kirche eine die Einheit verkörpernde Spitze gegeben werden: ein Reichsbischof wurde gewählt.

Reichsbischof
Die Wahl fiel auf den weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannten Leiter der Betheler Anstalten: D. Friedrich v. Bodelschwingh. Allenthalben freute man sich über diese Wahl. Der neugewählte Bischof richtete ein Grußwort an die evang. Gemeinden, das am 1. Pfingsttage im Gottesdienst verlesen wurde.
Bereits am 2. Pfingsttag verbreitete der Rundfunk die Nachricht, daß D. v. Bodelschwingh als Reichsbischof wieder zurückgetreten sei.
Am 9. Juni hielt Prälat Dr. D. Diehl vor oberhess. Geistlichen einen Vortrag in der Johanneskirche von Gießen über die kirchl. Verhältnisse in Deutschland, worin er erklärte, daß die Zeitungen noch nie soviel gelogen hätten wie in unseren Tagen.

Kirchl. Wahlen
Für Juli waren in ganz Deutschland kirchl. Wahlen ausgeschrieben. Von der nationalsozialist. Partei wurde die Forderung erhoben: 75% Deutsche Christen oder Parteimitglieder müssen in die kirchl. Körperschaften! Als der Ortsgruppenleiter Karl Müller mit diesem Ansinnen an mich, den Vorsitzenden des Kirchenvorstands, herantrat, erklärte ich ihm, daß der Wahlvorschlag vom Kirchenvorstand bereits aufgestellt sei. Man habe, soweit möglich auch Mitglieder der Partei in die Liste aufgenommen, aber ausschlaggebend seien nicht polit., sondern kirchliche Gesichtspunkte gewesen.
Es wurde nur ein Wahlvorschlag eingereicht. Eine Wahl zur Kirchengemeindevertretung erübrigte sich darum.
In die Gemeindevertretung waren gewählt:
    ? Müller              Hermann Kammer
    Wilh. Kopf I        Otto Kammer
    Karl Schäfer        Wilh. Emmel
    Hch Göbel        Ludwig Müller 4.
    Friedr. Wörner        Wilh. Welker
    Wilh. Müller 4.        Martin Emmel
    Ludwig Müller 5.    ? Göbel
    Karl Kempf        ? Moog
    Wilh. Eiser        Ferdinand Bopp
    Johs Reitz        Karl Weber
    Hch Kempf        Karl Bornmann
Der Kirchenvorstand wurde einstimmig wiedergewählt und zwar:
    Altbgmster Müller    Karl Müller 1.
    Hch Ernst        Louis Mathes
    Wilh. Stamm        Wilh. Neusel
So friedlich wie bei uns ging es bei dieser Wahl nicht in allen Gemeinden zu.
In Bettenhausen, wo der Berichterstatter die Wahl für den beurlaubten Pfr Dr. Heymann von Langsdorf zu leiten hatte, reichte der Ortsgruppenleiter Maurermeister Balser in letzter Stunde einen Gegenvorschlag zum Wahlvorschlag des Kirchenvorstandes ein, wiewohl er in diesem Wahlvorschlag des Kirchenvorstandes an 1. Stelle stand. In diesem 2. Vorschlag waren alle die ausgeschaltet, die nicht bei Maurermeister Balser hatten arbeiten lassen.
Bei der Wahl des Kirchenvorstandes erklärte dieser Ortsgruppenleiter: "Ich schlage als Kirchenvorsteher die 'alten Kämpfer' so und so vor." Der Vorsitzende erwiderte ihm: "Wir wählen nicht nach polit., sondern nach kirchl. Gesichtspunkten."
Die Vorgeschlagenen wurden gewählt, haben aber, wie mir erzählt wurde, bald darnach freiwillig auf die Mitarbeit im Kirchenvorstand verzichtet.
Es kam vor, daß bei diesen Wahlen Leute in die kirchl. Körperschaften gewählt wurden, die sich rühmen konnten, seit ihrer Konfirmation keinen Gottesdienst mehr besucht zu haben oder gar Katholiken waren. (So geschehen in Wiesbaden!)

Reichsbischof Ludwig Müller

Erntedankfest

Kirchl. Leben in Zahlen

Opfer

1935

Spezialvikariat von Ober-Widdersheim
Im Oktober 1934 war der Berichterstatter zum Spezialvikar der Pfarrei Ober-Widdersheim ernannt worden. Die Versehung der Pfarrei war von hier aus wegen der weiten Entfernung oft recht schwierig. Nicht immer stand Eisenbahn oder Kraftwagen zur Verfügung. Mancher Weg, besonders von dort zurück mußte zu Fuß zurückgelegt werden.

Der Kirchenkampf geht weiter
Der Kampf gegen das Gewaltregiment in der Kirche geht weiter. Die Disziplinierungen und Verhaftungen der Pfarrer werden immer häufiger. Man schließt die Verhafteten in die kirchliche Fürbitte ein. Der Kirchenregierung ist das unerwünscht. Sie verbietet diese Fürbitten oder vielmehr läßt sie durch die Polizei verbieten.

Für Sonntag Okuli (24.März) war eine Kanzelabkündigung den Pfarrern der bekennenden Kirche zur Pflicht gemacht worden. Am Sonntag Morgen teilt der Bürgermeister dem Berichterstatter mit, die Kanzelabkündigung sei polizeilich verboten. Sie wird doch verlesen. Man muß mit Verhaftung rechnen. Der Koffer mit warmen Sachen für die Haft ist gepackt.
Es geschieht aber nichts, da inzwischen ein Ereignis eingetreten ist, das eine Wendung zum Besseren bringt. In Ulfa ist ein Auto der Polizei, das Pfarrer ? verhaften sollte, von den Einwohnern mit Gewalt zurückgehalten worden. Auf eine Anfrage bei der Regierung in Darmstadt, was geschehen solle, kommt von dort die Weisung keine Pfarrer mehr zu verhaften.

In der nächsten Konfirmandenstunde auf den 24. März fragte ich die Konfirmanden: "Was hättet ihr denn gemacht, wenn ich von der Polizei geholt worden wäre?" Die Kinder sahen mich ratlos an. "Wie", frage ich, "ihr hättet mit der Konfirmation gewartet, bis ich wieder zurückgekommen wäre?" Darauf Herbert Bornmann: "Eich, eich hätt' mich auch von keim annern konfirmiern lasse."

Unter der Überschrift: "20000 Kämpfer angetreten" berichtet die oberhess. Tageszeitung v. 25.3.35 von Kreisappellen, die Gauleiter Sprenger? an verschiedenen Orten des Gaues hielt. Darin sagte er nach dem Bericht der Zeitung: "Wer das Bekenntnis zum Führer hinter andere Bekenntnisse stellt, der gehört nicht zur Partei. Wer Bekenntnisse für eine andere Welt proklamieren will, gehört an den Ort, da diese Bekenntnisse heimisch sind. Wer anderen Predigern als denen des Nationalsozialismus zuhört, gehört nicht zu uns, gleich wie lange er Beitrag zahlt."

Brandunglück

Auszeichnungen von Arbeitsveteranen

Bau eines Gemeindesaales
In der Kirchenvorstandssitzung v. 13 Okt. d. Jahres beschloß der Kirchenvorstand die Herrichtung des früheren Viehstalls im Pfarrhof als Gemeindesaal. -

Wie notwendig ein solcher Raum ist, geht aus einer Mitteilung hervor, die das "Deutsche Pfarrerblatt" in diesen Tagen bringt. Es ist da unter der Überschrift: "Eine einschneidende Veränderung(?)" zu lesen: "Alle Veranstaltungen der Inneren Mission, des Evang. Männerdienstes, der Evang. Frauenhilfe, sowie des Evang. Jungmädchenwerkes(?) sind von der Staatspolizei als öffentliche Veranstaltungen verboten, soweit sie AUSSERHALB DER KIRCHL. RÄUME STATTFINDEN, und zwar im Einvernehmen mit dem Minister für Kirchliche Angelegenheiten."

Christentum und Nationalsozialism.
Zum Thema "Christentum und Nationalsozialismus" sei hier noch angefügt, daß schon im Frühjahr 1934 ein von einer "Schulung" in Lollar zurückgekehrter junger Mann (Ernst Kappeller) in einem Vortrag vor Parteigenossen erklärte: "Christentum und Nationalsozialism. sind Gegensätze, die nicht nebeneinander bestehen können. Das Christentum muß also verschwinden." Im Parteiprogramm steht aber unter § 24 "Positives Christentum"!!

1937

Frauenhilfe
Die Frauenhilfe hielt noch im Winter 1936/37, wie in den vorhergehenden Jahren, regelmäßig wöchentlich ihre Versammlungen im Rathaus ab. Diese Versammlungen waren immer trotz vieler Anfeindungen von anderer Seite gut besucht.

Da die Versammlungen der nationalsozial. Organisation, der Frauenschaft, weniger anzogen und darum oft recht spärlich besucht waren, entstand von dieser Seite her Neid, der sich in Worten, wie dem: "Läufste aach dem Pfarrer nach?" Luft machten. Wenn auch die jüngeren Frauen im allgemeinen, weil sie sich mehr für die Frauenschaft werben ließen, der Frauenhilfe nicht mehr beitraten, ließen sich die alten treuen Mitglieder in ihrer Anhänglichkeit gegen die Frauenhilfe nicht beirren.

Besonders beliebt waren die Sommerausflüge der Frauenhilfe. 1935 führten uns 2 Autobusse des Zweckverbandes Ulfa-Nidda nach Darmstadt, über die Bergstraße nach Heidelberg und Schwetzingen. Im Jahr 1936 führten uns dieselben Autobusse an die Edertalsperre und weiter nach Kassel-Wilhelmshöhe.

Im Berichtsjahr, in dem die bisher benutzten Verkehrsmittel nicht mehr zur Verfügung standen, ging der Ausflug per Bahn zur Hillersbachtalsperre bei Hirzenhain.

Jugend und Kirche
Der antikirchl. Beeinflussung, von der schon oben die Rede war, fällt naturgemäß die Jugend mehr anheim als das Alter. Sie ist ihr auch in den Organisationen, in denen sie steht, stehen muß, mehr ausgesetzt als das Alter. Welche Mühe und Arbeit kostet es, die Jugend - auch die Konfirmanden - zum Besuch des Gottesdienstes zu bringen. Schon in 1933 mußte der Berichterstatter über schlechten Gottesdienstbesuch der Jugend klagen (Vgl. Heimatglocken 1933 No. 7). In der Zeit seitdem ist es nicht besser geworden.

Es kam vor, daß die Schuljugend am Sonntag Morgen kurz vor dem Gottesdienst auszog, singend oder schon mehr grölend, am Pfarrhaus vorbeimarschierte und grinsend nach den Fenstern des Pfarrers schauten, als wollten sie sagen: "Was hast du uns noch zu sagen?"

Altes Fachwerkhaus
Im Januar ließ Bäckermeister Wilhelm Scheld sein Haus, Ecke Vorder- und Obergasse neu verputzen. Beim Entfernen des alten Verputzes kam ein schöner alter Fachwerkbau zum Vorschein, der wohl wert gewesen wäre als Zeuge der Baukunst vergangener Jahrhunderte der Mit- und Nachwelt sichtbar erhalten zu bleiben. Da jedoch der Besitzer fürchtete, daß das Haus ohne Verputz kälter werden möchte, und da auch die Auffrischung des Fachwerkes größere Kosten verursacht haben würde, blieb bloß der mit reichem Schnitzwerk versehene Eckpfosten und der Balken mit der Inschrift vom Verputze frei.

Die Inschrift lautet: "...ist dieser Bau durch Johann Ambrosius Hock und Anna Maria beyde Ehleut erbaut und den 17 Tag Abbrilius aufgeschlagen worden."
Während die Schrift noch gut erhalten und deutlich zu lesen war, war die Stelle, wo die Jahreszahl stand, stark verwittert und die Zahl nicht mehr zu entziffern.
Mit Hilfe unseres ältesten Kirchenbuches konnten wir jedoch leicht die Zeit, in der das Haus erbaut wurde, feststellen. Die Erbauer des Hauses wurden zum 1. Mal in einem Taufeintrag vom Jahr 1675 erwähnt. Es heißt da: "Den 10. Dezember Johann Ambroß Hock eine Tochter Margaretha getauft; Gevatterin ist eine aus der Freundschaft in Gambach."
Der Name Hock soll noch bis vor kurzem in Gambach existiert haben. (Vgl. Heimatglocken 1937 No 9)

[Nachtrag J. Fritzsche, 1996:
Inzwischen ist nach einer Renovierung durch die jetzigen Bewohner Michael und Daniela Schimpf das Fachwerk wieder ganz freigelegt und der Anfang der Inschrift zu lesen, die Jahreszahl 1674.]

Nachtrag:
1617 großer Brand in B., dem 100 Häuser zum Opfer gefallen sein sollen. Vermutlich auch das Rathaus, das 1651 [wieder] erbaut wurde. Vgl. auch die Notiz auf S. 77 dieses Buches. Offenbar konnten die Häuser erst nach Ende des 30jähr. Krieges aufgebaut werden.
Gerich, Pfr.

Herstellung und Einweihung des Gemeindesaales
Auf Seite 184 wurde von einem Beschluß des Kirchenvorstandes zur Herstellung eines Gemeindesaales berichtet. Hier kann nun von der wohlgelungenen Vollendung des Werkes berichtet werden.

Freilich vom Beschluß des Kirchenvorstandes bis zu seiner Ausführung war ein weiter Weg, auf dem es viele Hindernisse zu überwinden galt.

Schon bald nach Beschluß des Kirchenvorstandes riet ein Kirchenvorsteher dem Berichterstatter wohlmeinend, den Plan zur Errichtung eines Gemeindesaales fallen zu lassen, da von Parteiseite geäußert worden sei, wenn der Saal hergerichtet sei, dann werde sich die Partei hineinsetzen. Aber der Berichterstatter ließ sich nicht einschüchtern sondern verfolgte weiter sein Ziel.

Welche Schwierigkeiten zu überwinden waren, davon ist berichtet in den Heimatglocken 1937 No 11. Aber von einem Versuch die Sache zu hintertreiben, ist dort aus erklärlichen Gründen nicht berichtet. Darüber soll an dieser Stelle noch etwas gesagt werden.

Im Herbst 1936 ging der Antrag des Kirchenvorstandes wegen Errichtung des Saales an das Hochbauamt in Gießen. Es vergingen Monate und Monate, ohne daß von dort eine Antwort gekommen wäre. Auch eine schriftliche Anfrage blieb ohne Erfolg. Als der Berichterstatter gegen Frühjahr persönlich bei diesem Amt vorsprach, um sich nach dem Verbleib des Antrages zu erkundigen, erklärte der Oberinspektor des Amtes, bei ihm liege kein Antrag vor. Als ich ihm erklärte, der Antrag müsse vorliegen, denn er sei von mir persönlich übergeben worden, ließ er einen Schreiber kommen und fragte diesen nach unserer Sache. Da bekam der junge Mann einen roten Kopf und sagte, die Gemeinde habe den Antrag zurückgezogen. "Wie kann die Gemeinde einen Antrag des Kirchenvorstandes zurückziehen?" fragte ich. Darauf erklärte er, wie das zugegangen sei, wisse er nicht, auf jeden Fall sei der Antrag... zurückgegeben worden. "Ja, was soll ich denn nun tun?" fragte ich.
[Pfr. Gerich konnte den Bürgermeister dazu bewegen, den Antrag dem Hochbauamt wieder zuzuleiten.] Und nun ging alles flott vonstatten.

Das Hochbauamt stellte einen Kostenvoranschlag auf, der sich auf 1905 Mark belief.
Die Arbeiten wurden an einheimische Handwerksmeister vergeben und bis zum Herbst war der Saal fertig.

Die Kosten wurden wie folgt aufgebracht:
    1, Die Frauenhilfe spendete ein Kapital, das sie für Ausschmückung der Kirche angesammelt hatte.
    im Betrage von 280,-
    2, durch freiwill. Gaben wurden 715,-
    aufgebracht
    3, wurde ein Darlehen beim Orgel-
    und Glockenfonds aufgenommen im Betrag
    von 800,-

Einnahmen- und Ausgabebelege siehe in Rechnung 1937, die Einweihung des Saales fand am 14. November statt.

Es fand ein Festgottesdienst statt, in dem 2 Söhne der Gemeinde, Dekan Vogel, Bruchenbrücken, und Pfarrer König von Kleinlinden predigten.
Dann zog man in festlichem Zug in den Saal, soweit er die Festgemeinde zu fassen vermochte - der Rest mußte im Pfarrhof bleiben - und der Ortsgeistliche hielt die  Weiheansprache über Kolosser 3,16.

Ausführlicheres siehe in Heimatglocken 1937 No 11 u. 12 u. 1938, 1 u. 2. Bei der Einweihung des Saales wurde ein Film aufgenommen, aus dem  einige Bilder hier angefügt werden. Weitere Bilder s. letztes Blatt dieses Buches.

Wegzug 2er Familien aus der Gemeinde
Im Spätherbst des Jahres verließ die Familie Georg Jakobi mit ihren beiden Söhnen Walter und Herbert unsere Gemeinde, um in dem neugegründeten Erbhöfedorf Allmendfeld bei Gernsheim 2 Erbhöfe zu übernehmen.

Das Haus, genannt "Weedschneiders" kaufte Ferdinand Bopp als Wohnung für Dienstboten.

Zu derselben Zeit zog das Ehepaar Wilh. Schmidt u. Emma, geb. Göbel nach Berstadt, der Heimat des Ehemannes, um dort die Tage des Alters zu verleben.

Das Haus dieser Eheleute ging in den Besitz von Hermann Scheld über.

Tödlicher Unfall
Am 18. Dezember wurde der Erbhofbauer Hermann Hahn mit Fuhrwerk vom Zuge erfaßt und starb noch am selben Tage.

1944

Fliegerangriff auf Bellersheim

Am heiligen Abend 1944 erlitt auch unsere Gemeinde einen schweren Fliegerangriff. Heiligabend fiel auf einen Sonntag. Am frühen Nachmittag des Tages trat der Berichterstatter den Weg nach Berstadt an, um dort am Nachmittag mit den Kindern noch eine Probe zu halten für den liturgischen Gottesdienst am Abend.

Es war ein wundervoller Wintertag, die Felder mit einem leichten Schnee bedeckt, die Wintersonne leuchtete mild von dem mit leichten weißen Wölkchen besäten Himmel. "Was für ein schönes Weihnachtsfest könnten wir feiern!" so ging es dem über die Felder Schreitenden durch den Sinn, "wenn dieser elende Krieg nicht wäre!"

In sein Gedächtnis suchte er sich noch einmal die Verse einzuprägen, mit denen er seine Ansprache im Gottesdienst beginnen wollte:

"Christfestglocken, wie ernst euer Klang!
Christenherzen, wie seid ihr so bang!
Schatten auf Häusern und Herden.
Goldiger Glanz der Vergangenheit
Weihnachtsjubel, wie weit, wie weit,
Schrecken, Schrecken auf Erden!"

Einzelne Flieger schwirrten durch die Luft. Die Probe fand statt. Währenddessen nahm die Fliegertätigkeit zu, so daß einige Mütter ihre Kinder aus der Kirche holen ließen. Vom Boden des Pfarrhauses beobachtete man die immer zahlreicher kreisenden Flieger. Auf einmal bemerkte man, wie in Richtung Bellersheim Felder am Himmel abgesteckt wurden, und schon krachten auch die Bomben und aus Bellersheim stiegen hohe Rauchsäulen auf, die sich bald in hell lodernde Flammen verwandelten. So schnell die Füße tragen konnten, eilte der Berichterstatter in seine Gemeinde. Im Pfarrhaus war, bis auf ein paar Fensterscheiben, alles unversehrt geblieben. Im Wohnzimmer bemühte man sich um ein verletztes Kind, dessen Vater beim Angriff den Tod gefunden hatte.

Der Angriff hatte wohl in erster Linie der Oberburg gegolten. Sie hatte am meisten abbekommen. Der oberste Stock des Wohnhauses war zusammengebrochen. Das alte Pächterehepaar, das in diesem Stock gewohnt hatte, war in den Garten geschleudert worden und war tot. Ein Teil der Ökonomiegebäude stand in Brand. Weiter brannten die an die Oberburg angrenzenden Ökonomiegebäude von Phil. Emmel und Ernst Kälberer in der Münchgasse. Die diesen Höfen in der Münchgasse gegenüberliegenden Höfe von Müller (Steghannese) und Schmied Jochem waren ebenfalls schwer getroffen. Eine Bombe, die in das Wohnhaus von Müller ging, traf die junge Frau Herta Müller, die gerade aus dem Zimmer gehen wollte, und tötete sie auf der Stelle.

In der Hintergasse [Anmerkung: heute "An den Hafergärten"] wurde das an Schmied Jochem angrenzende Haus von Schmied Bettinghausen getroffen, ebenso die Wirtschaftsgebäude von Otto Kammer (Wonners) und Witwe Kopf (Blocks).

In der Obergasse [Anmerkung: heute "Münzenberger Straße"] brannten die der Oberburg gegenüberliegenden Wirtschaftsgebäude von Mathes, Bopp (Hankurtches), Eberhardts, Sames und Weil nieder.

Weiter wurden in der Hintergasse ein Seitenbau im Hof von Schuhmacher Müller zerstört. In ihm hatte eine evakuierte Frau von Köln, Klara Demand, mit ihrem 4-jährigen Enkel gewohnt, ebenso eine aus Frankfurt evakuierte Frau, Berta Essenwanger mit ihrem Enkelkind [Anmerkung: Hier hat sich Pfr. Gerich vertan. Frau Essenwanger und ihr Kind - nicht ihre Enkelin! - starben ebenfalls in der Oberburg]. Alle kamen ums Leben.

Nicht weniger Verheerung richtete eine Bombe an, die in das Gemeindehaus, Ecke Ober- und Steggasse fiel. Sie tötete das alte Invalidenehepaar Schlosser sowie die Witwe Margarete Horst und ihren Schwiegersohn Karl Steuernagel. Schwerverwundet wurden bei dem Angriff noch 2 ausländische Arbeiter, ein Pole, der in Obbornhofen in Arbeit stand und ein Ukrainer, der in der Oberburg arbeitete. Beide starben an ihren Verwundungen im Krankenhaus.

Die Toten bettete man zunächst in der Kirche, deren Fenster durch den Luftdruck zum großen Teil beschädigt waren. Auch das Dach der Kirche hatte durch Bombensplitter notgelitten. Die Weihnachtsfeiertage waren durch Aufräumungsarbeiten, an denen die umliegenden Ortschaften mit Gespannen und Arbeitskräften sich beteiligten, ausgefüllt.

Bestattung der Toten vom Fliegerangriff
Die Bestattung der Toten fand am 29. Dezember statt. Es war vorgesehen, angesichts der in der Kirche aufgestellten Särge einen Trauergottesdienst zu halten. Die Kreisleitung von Gießen befahl jedoch, daß die Särge auf den Friedhof gebracht wurden. Als es zum Gottesdienst läutete, sammelte sich die Partei mit ihren Organisationen auf dem Friedhof. So kam es, daß ein Teil der Trauergemeinde auf dem Friedhof, ein anderer in der Kirche versammelt war. Um des Friedens willen und um der Würde der Feier keinen Abtrag zu tun, bat der Pfarrer die in der Kirche Versammelten, zunächst an der Parteifeier am Grabe teilzunehmen und dann zur Trauerfeier in die Kirche zu kommen. Nicht alle folgten der Aufforderung. Während der Feier draußen flogen wieder feindliche Flieger über die Versammlung, so daß manche aus Angst den Friedhof verließen.

Nach der Parteifeier versammelte sich die christliche Gemeinde im Gotteshaus. Es schlossen sich nur die in Uniformen von der Feier in der Kirche aus.Die Gemeinde sang im Gottesdienst von dem Lied "Weicht ihr Berge" die 1., 3., 4. und 5. Strophe, die der Pfarrer vervielfältigt in der Kirche hatte auslegen lassen. Als Schriftlesung diente Jes. 54, 7.8.10.. Der Trauerpredigt lagen die Worte aus dem Evangelium des Johannes 14, 1-3 und 27 zugrunde.

Warum die Feinde unsere kleine Dorfgemeinde sich zum Angriff ausgesucht hatte, hat man nicht ergründen können. Da aber an jenem Tag nur Flugplätze angegriffen worden waren, mußte man annehmen, daß man auch in Bellersheim etwas wie einen Flughafen treffen wollte. Es wurden auch Karten gefunden, auf denen in Bellersheim ein Flugplatz eingetragen war. In der Tat war ein solcher früher einmal geplant gewesen. Bemerkt sei noch, daß bei diesem Fliegerangriff etwa 30 Gehöfte z.T. schwer, z.T. leicht beschädigt wurden. Außer den 13 Opfern an Menschen kamen etwa 100 Stück Großvieh ums Leben. Man hat später ausgerechnet, daß etwa 700 Bomben auf Bellersheim abgeworfen wurden.

[Siehe Gedenkveranstaltung 50 Jahre später, 1994]

1994

Gedenkveranstaltung: "Bomben auf Bellersheim"
An Weihnachten 1944 kamen bei einem Bombenangriff auf Bellersheim 13 Menschen im Dorf ums Leben.

Weil dieses Ereignis vom 24.12. auch heute noch die Menschen im Dorf bewegt, boten wir einen "Erinnerungsabend" im Pfarrsaal an: Am Abend des 23.12. kamen etwa 50 Bellersheimer Bürgerinnen und Bürger und auswärtige Gäste im Pfarrsaal zusammen. Im Mittelpunkt standen Berichte von Zeugen des Angriffs, die mir z.T. schon vorher schriftlich vorgelegen hatten.

Am 24.12. gab es um 15 Uhr von Seiten der politischen Gemeinde und der Stadt Hungen eine Gedenkveranstaltung an den Gräbern der damaligen Opfer. Beides hat mich in meinem Vorhaben bestärkt, ein kleines Heft mit den Berichten von Zeitzeugen zusammenzustellen. Die Berichte dieses Heftes werden hier im Folgenden dokumentiert.

Heft "Bomben auf Bellersheim"

 

Vorwort von Pfr. Johannes Fritzsche

 

24. Dezember 1944: Amerikanische Flugzeuge bombardieren am Nachmittag des Heiligabend gegen 15 Uhr das kleine, militärisch unbedeutende Bellersheim.

Ein Ereignis, das sich nicht nur wegen der 13 getöteten Menschen tief in die Erinnerung eingegraben hat. Noch heute kommt immer wieder die Rede auf die damaligen Geschehnisse. Dass der Angriff ausgerechnet an Weihnachten, zum Fest des Friedens, stattfand, machte nur um so schmerzlicher die Schrecken dieses Krieges bewusst.

50 Jahre sind mittlerweile vergangen. 1994 wurde ich immer wieder auf den Bombenangriff angesprochen: Ob eine Gedenkfeier von kirchlicher Seite geplant sei. Am 23. Dezember veranstalteten wir daraufhin einen "Erinnerungsabend", der von ca. 50 Bellersheimern und Auswärtigen besucht wurde.

Im Mittelpunkt standen Berichte von Zeugen des Angriffs, die mir z.T. schon vorher schriftlich vorgelegen hatten.

Am 24.12. gab es um 15 Uhr von Seiten der politischen Gemeinde und der Stadt Hungen eine Gedenkveranstaltung an den Gräbern der damaligen Opfer.

Beides hat mich in meinem Vorhaben bestärkt, ein kleines Heft mit den Berichten von Zeitzeugen zusammenzustellen.

Es geht mir dabei um dreierlei:

  1. Es geht um Solidarität mit denen, die die schreckliche Last dieser Erinnerung tragen müssen. Es darf nicht sein, dass sie mit den Erlebnissen von damals allein gelassen werden und allein damit fertig werden müssen. Es ist wichtig, daß sie sie (mit-)teilen können und andere darum wissen.
  2. Es geht um Warnung vor Krieg und Mahnung zum Frieden - vor allem für die jüngere Generation - anhand eines Stücks Lokalgeschichte, die zeigt: So ist Krieg, das sind die Folgen von Nationalismus, Feinddenken und Setzen auf (militärische) Stärke, das sind die Folgen einer Gesellschaft, die sich an den Stärksten und Besten orientiert, statt sich der Hilfsbedürftigen anzunehmen.
  3. Es geht darum, ein Stück Bellersheimer Geschichte zu bewahren. Deshalb sind auch weitere Berichte willkommen, damit die vorliegende Sammlung erweitert werden kann.
Bericht von Pfarrer Gerich (s. 1944)

 

 

Ria Mühling: Heiligabend 1944, Kriegsweihnachten!

 
Wieder einmal mussten wir Kinder mit unserer Mutter, Tante und unserem Großvater alleine Weihnachten feiern. Vater und unsere Onkel waren an der Front. Draußen herrschte klirrende Kälte. Ich war gerade dabei, den Weihnachtsbaum zu schmücken. Wir Kinder, ich war damals 12 Jahre und die Älteste., hatten zu der Zeit schon immer unsere kleinen Verpflichtungen, die wir zu erledigen hatten. Mein Großvater stand am Wohnzimmerfenster. Schwere Bombenverbände zogen über unser Dorf hinweg. "Die fliegen heute sicher wieder nach Berlin", hörte ich unseren Großvater sagen. Da standen plötzlich die ersten Angriffszeichen, "Christbäume" sagten wir damals, über unserem Dorf. Silberstreifen kamen vom Himmel. Wir wussten so annähernd, was nun geschehen würde.

Es begann ein plötzliches Heulen und Zischen der Bomben. Anzeichen, die wir von Darmstadt kannten, von wo wir nach den ersten Luftangriffen auf Anraten unseres Vaters nach Bellersheim in das Haus unseres Großvaters geflüchtet waren. Dort wähnte man uns in Sicherheit, dachte doch damals niemand, dass so ein kleines Dorf von Fliegern angegriffen würde.

Doch um Haaresbreite entgingen wir hier unserem Schicksal. Es ging alles sehr schnell. Wir stürmten aus dem Wohnzimmer zunächst in den Hausflur. Meine Mutter und Tante kamen aus der Küche. Da wir im Haus nur einen kleinen Lehmkeller hatten, rannten wir über die Straße, um in den gewölbten Keller der Unterburg zu gelangen. Schmutz, Steine und Staub flogen über uns hinweg, so dass wir uns gegenseitig nicht mehr sehen konnten. Die Pächtersfrau und eine Frau aus Berlin, deren Kinder zu der Zeit noch im Hof waren, saßen mit uns im Keller.

Doch jetzt fielen 2 Bomben auch in unseren jetzigen Hof. Eine zerstörte den Pferdestall an der Straßenseite, die andere fiel in den Hausgarten.

Wie die aufgescheuchten Hühner verließen wir den Keller wieder und wollten uns ins freie Feld retten. Der Gefahr nicht bewusst rannte ich noch einmal ins Haus, um einige Kleider zu holen, denn es war bitterkalt. Meine Mutter schrie fürchterlich nach mir. Mit einem Arm voller Jacken und Mäntel rannte ich mit meiner Mutter und Schwester durch die Eckgasse, um ins freie Feld zu gelangen. Da flogen die Flugzeuge zum zweitenmal unser Dorf an und wieder krachte und tobte es über uns. Da blieb nichts anderes übrig, als uns an die Hauswand des ehemaligen Neuselschen Hauses zu pressen und dort das Gröbste über uns ergehen zu lassen. Meine Tante mit der kleinen, erst 3 Monate alten Rosemarie, und unser Großvater konnten uns kaum folgen. Endlich waren wir dann im freien Feld in der Höhe der Welkerschen Feldscheune und setzten uns hinter eine Rübenmiete. Von dort sahen und ahnten wir nur das uns erwartende Grauen. An verschiedenen Stellen im Dorf brannte es. Langsam wagten wir uns zurück.

Unser erster Gang war der zu unserer Großmutter, die nach der Flucht aus Darmstadt in dem Haus ihres Neffen Wilhelm Göbel aufgenommen worden war. Wir waren froh, dass wir alle wieder gesund beieinander waren. In anderen Familien sah es schlimmer aus. Da waren Menschen umgekommen. Eine Verwandte von uns war auf grausame Art ums Leben gekommen, als sie nach ihrem Sohn rufen wollte. Ganze Höfe und Häuser waren zerstört. Das Vieh lag tot herum und überall brannte es. Es brannte die ganze Nacht. Wir Kinder saßen bei Kerzenlicht im Wohnzimmer und beteten. Wir dachten, jetzt, wo es überall brannte, sehen sie unser Dorf noch deutlicher und greifen erneut an.

Und als meine Kinder später geboren wurden, betete ich wieder: für eine Zukunft ohne Krieg.

 

Einsatzbericht:

(Bericht über Plan und Ausführung des Einsatzes der 92. Bombergruppe am 24.12.1944 mit dem Ziel, Gießen Flughafen und Nidda Flugplatz.)

Übersetzt aus dem Englischen von Frau Gisela Burg. Zusammengestellt und kommentiert von Robert Keller.

"Am 23.12.1944 erhielt Capt. Stroud um 23.35 Uhr die Anweisung zum Beladen mit Bomben.
Der Marschbefehl ging am 24.12.1944 um 5.40 Uhr ein.
Einsatzbesprechung war um 7.00 Uhr und um 10.00 Uhr war Start.

39 Flugzeuge der 40th 'A' Gruppe und 4 Pfadfinder starteten in Podington/England mit Kurs auf Gießen.
Die Gruppe setzte sich zusammen aus der Hoch-, Tief- und Niedrigstaffel.
Leiter der Hochstaffel 40th 'A' war Lt. Good.
Leiter der Tiefstaffel waren Capt. Allen und Lt. Kane.
Leiter der Niedrigstaffel war Lt. Chew.

12 Flugzeuge der 40th 'D' Gruppe (Hochstaffel) und 1 Pfadfinder, die Nidda angreifen sollten, starteten in England mit Verspätung.
Leiter der Hochstaffel 40th 'D' war Lt. Griffiths.
Die Staffel sammelte sich, konnte aber die 40th 'A' Hoch-, Tief- und Niedrigstaffel am Kontrollpunkt 1 nicht lokalisieren.
Deshalb startete sie auch dort 13 Minuten später und setzte ihren Flug zum angegebenen Ziel alleine fort."

Die Hochstaffel 40th 'D', die ja für Nidda vorgesehen war, griff aber wegen falscher Zielidentifizierung ein anderes Ziel an - das Dorf Bellersheim.

Dasselbe passierte auch der 40th 'D' Tiefstaffel der 305. Bombengruppe, die ebenfalls für Nidda vorgesehen war.
Auch diese Staffel griff versehentlich Bellersheim an. Lediglich die 40th 'D' Niedrigstaffel der 306. Bombengruppe konnte den Flugplatz Nidda ausfindig machen und griff diesen mit 17 Flugzeugen an.

Insgesamt warfen 26 Flugzeuge ihre Bombenlast - gegen 14,58 Uhr - auf Bellersheim ab.
Zum Abwurf kamen 905 x 100 GP = 41,8 to.

Getroffen wurde der westliche Ortsbereich und hier besonders das Bellersheimer Hofgut.

Insgesamt kamen 11 [Korrektur: 13] Menschen bei diesem Angriff ums Leben, alleine fünf Menschen auf dem Hofgut.

Am 24.12.1994 werden es nun 50 Jahre seit diesem Ereignis, aber es werden sich noch viele Bellersheimer an diesen Angriff am 24.12.1944 erinnern.

 

Rosemarie Mühling, Toni Groth-Häbel: Kriegsweihnachten 1944

(Bericht in der Zeitung der Ev. Kirchengemeinde in Friedberg Dezember 1989 von Toni Groth-Häbel und Rosemarie Mühling, 1944 11 Jahre alt)

Toni Groth-Häbel:
Mittlerweile sind seit dem Weihnachtsfest 1944 45 Jahre vergangen. Inzwischen leben wir zwar auch nicht in einer heilen Welt. Mancher von uns hat persönliche Sorgen, oder auch eine schwere Krankheit lassen nicht jeden das Christfest unbeschwert begehen.

Doch die weihnachtlichen Schaufenster stecken voller Geschenkideen, die Wohnungen sind gut warm, es gibt genügend Möglichkeiten für ein festliches Mahl und allerlei Leckereien.

Aus meiner Erinnerung möchte ich über das Weihnachtsfest 1944 berichten. Wir befanden uns bereits im 6. Kriegsjahr und es mangelte an allen Ecken und Enden am Nötigsten. Nur ein einziger Raum der meisten Wohnungen konnte noch spärlich beheizt werden. Mein Vater in Russland vermisst, mein Bruder Soldat. Ein Verwundeter, der Urlaub zu Weihnachten vom Lazarett bekommen hatte, bei uns zu Besuch. Viele Friedberger standen in Ost und West, in Süd und Nord an der Front, viele Angehörige hatten kaum Nachricht von den Angehörigen. Die Lebensmittel waren knapp. Unsere Stadt hatte zu diesem Zeitpunkt schon einige Luftangriffe erlebt, manche hatten dabei ihr Leben und andere wieder nur ihr Obdach bzw. Hab und Gut eingebüßt. Es war eine echte Bürde, dass man mehrere Stunden bei Tag bzw. auch oft nachts den Luftschutzkeller aufsuchen musste. Die Lichter gingen sozusagen bei Kriegsbeginn 1939 aus und es herrschte ab Einbruch der Dunkelheit der Luftgefahr wegen totale Verdunkelung. Man musste sich mit den dunklen Straßen abfinden, was nicht ganz so einfach war.

Mir hat sich besonders der 24.12.1944 eingeprägt. An diesem Tag gab es schon gegen Mittag Fliegeralarm und trotz der spärlichen Festvorbereitungen mussten wir den Luftschutzkeller aufsuchen. Es muss gegen 15.00 Uhr gewesen sein, als ganz in der Nähe die Detonation von Bomben zu hören war, auch war ständig mit Tieffliegerbeschuss zu rechnen. Trotzdem hatte es sich ganz schnell nach hier herumgesprochen, dass der Wetterauer Ort Bellersheim, ganz in der Nähe von Wölfersheim, zu Heiligabend schwer heimgesucht worden war. Uns beschlich ein ganz trauriges Gefühl, dass an diesem Tag Menschen durch Kriegsereignisse so heimgesucht wurden.

Ich lasse nun den Bericht von Frau Mühling folgen, die als 11 Jahre altes Kind auf dem Hofgut Bellersheim, welches damals ihre Eltern bewirtschafteten, diesen Angriff miterlebte.

Rosemarie Mühling:
Es war ein wunderschöner klarer Wintertag, dieser 24. Dezember 1944. Wir Kinder freuten uns auf das Weihnachtsfest und die Zeit wollte und wollte nicht vergehen.

Um uns die Zeit zu verkürzen, liefen wir auf unserem Teich Schlittschuh, als plötzlich gegen 13.00 Uhr die Sirenen heulten. Und schon kurz darauf erschien der erste Bomberverband - von Jagdflugzeugen begleitet. Wie schön sahen die silbernen Vögel in der Sonne am Himmel aus. Von jetzt an flog ein Bomberverband nach dem anderen gegen Osten. Nach einer gewissen Zeit wurde es uns unheimlich und wir liefen ins Haus zu unseren Eltern. Auch sie machten sich schon große Sorgen und Mutter brachte uns in den Kartoffelkeller und ging noch einmal zurück ins Haus. Vater ging noch einmal durch die Ställe, um nach den Tieren zu schauen. Es war mittlerweile 15.00 Uhr geworden.

Kurze Zeit später hörte man ein Zischen und Krachen, der Keller wankte wie ein Kartenhaus hin und her und wir Kinder wurden in Angst und Schrecken versetzt. Wir zitterten am ganzen Körper und nur ein Wunsch war vorhanden, aus diesem Keller wieder herauszukommen. Wir schafften es auch und konnten nun das ganze Ausmaß der Verwüstung sehen.

Die Bilanz war fürchterlich. 5 Tote waren auf dem Hofgut zu beklagen und 6 Tote im Dorf. Auf dem Hof fast alle Gebäude zerstört nebst Wohnhaus, die Scheune brannte und der Kuhstall begrub beim Einsturz alle Tiere unter sich. Da das Feuer auch auf den Pferdestall übergreifen wollte, band man sämtliche Pferde los, die wie irr auf dem Hof herumgaloppierten und nicht wussten, wohin. Dazwischen hoppelten Hasen und Geflügel irrte umher.

Dazu kam, dass der vorher so sonnige Himmel nun fast dunkel war von dem vielen Staub und Rauch. Auch wir Kinder liefen ziellos umher, bis uns jemand zu unserer Tante am anderen Ende des Dorfes brachte. Dort trafen wir auch unsere Eltern wieder. Auf dem Weg durch das Dorf sahen wir überall entsetzliche Verwüstung, an allen Ecken brannte es und die Menschen standen hilflos dabei, denn es waren ca. 12° minus und alles Löschwasser fror gleich oder die Leitungen waren zerstört.

Von den vielen Bomben, die auf Bellersheim abgeworfen wurden, fielen 41 Stück auf das Hofgut und es hat Jahre gedauert, um alles wieder aufzubauen.

Diesen Heiligabend werde ich nie vergessen, war er doch der traurigste überhaupt.

Möchten sich solche schrecklichen Begebenheiten nie mehr wiederholen und der Friede in unserer Welt erhalten bleiben.

Toni Groth-Häbel:
Nun wieder zurück zu uns Friedbergern an diesem Heiligabend. Sehr schnell hatte sich, kurz vor Beginn des Weihnachtsgottesdienstes, herumgesprochen, dass der Ort und der Bellersheimer Hof so hart vom Luftkrieg heimgesucht waren. Wahrscheinlich durch die Anforderung der damaligen Hilfsdienste wie Technisches Hilfswerk, Rotes Kreuz und Feuerwehr. Es war uns gerade zu dieser schweren Zeit ein besonderes Bedürfnis, den Gottesdienst zu Heiligabend in der Burgkirche aufzusuchen. Man besann sich zu dieser Zeit sehr auf die christlichen Werte und suchte dort Trost in schwerer Notzeit. Wie jedes Jahr wurde das Weihnachtsevangelium verkündet und es war eine gute Fügung, dass der Gottesdienst ruhig, ohne Fliegeralarm, ablaufen konnte. Schnell strebte dann jeder wieder nach Hause, denn man rechnete ja wieder mit eventuellem Fliegeralarm und da wollte man gerne zu Hause sein.

Seit diesem Weihnachtstag hat für mich die Verkündigung "Friede auf Erden" eine besondere Bedeutung bekommen.

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