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Das kirchliche Leben im Dorf Obbornhofen

 (Von Pfarrer Johannes Fritzsche)

Grundlage für diesen Beitrag ist ein Artikel, den ich 2008 für ein Heft des Heimatvereins mit dem Titel "Obbornhofen – Dorfleben im vorigen Jahrhundert", hg. v. Hans Kammer) geschrieben habe. Ergänzt und aktualisiert habe ich ihn für die Veröffentlichung im Festbuch für die 1250-Jahr-Feier in Obbornhofen 2017.
Übrigens: Ich bin sehr interessiert an Korrekturen und Ergänzungen – die ich gerne für kommende Generationen festhalten möchte.


Vorbemerkung:

Die Pfarr-Chronik von Obbornhofen, begonnen 1842, wurde von den Obbornhofener Pfarrern geführt. Sie ist auch eine Fundgrube für die Ortsgeschichte. Freilich wurde nicht aufgezeichnet, was damals selbstverständlich war: die gängige Praxis im kirchlichen Leben. Hier habe ich viele Informationen aus den Gesprächen mit Goldenen KonfirmandInnen und älteren Gemeindegliedern gewonnen.

Die Rolle der Pfarrer im Dorf:
Zusammen mit dem Bürgermeister war der Pfarrer früher die wichtigste Autorität im Dorf. So durften sich Kinder nach dem Abendläuten nicht mehr von ihm auf der Gasse erwischen lassen. Offenbar wurde der Pfarrer (ungefragt) auch für die Erziehung eingespannt, wenn Eltern ihren Kindern drohten: "Wenn du nicht brav bist, kommt der Pfarrer und schlägt dir einen Nagel in den Kopf" – ein Satz, bei dem sich heute die Haare sträuben und der mit dem Evangelium sicherlich nicht vereinbar ist. Das zeigt aber, mit wieviel Respekt (bis hin zu Angst) man dem Pfarrer begegnet ist (unabhängig davon, ob er diesen Respekt auch verdient hatte).

Pfarrer kümmerten sich - wie oft auch die Lehrer – um die geschichtlichen Wurzeln des Dorfes und der örtlichen Kirchengeschichte, gehörten sie doch zu den wenigen "Studierten" im Dorf.

Gottesdienst:
Für das Jahr 1937 hat Pfarrer Philipp Schäfer folgende Zahlen in der Pfarrchronik aufgeschrieben: "In 61 Hauptgottesdiensten waren 3707 männliche und 4087 weibliche Personen – außerdem 2482 Kinder. In 13 Nebengottesdiensten waren auch noch 837 männliche und 1851 weibliche Personen – außerdem 512 Kinder..."
Das bedeutete pro Hauptgottesdienst einen Durchschnittsbesuch von 168 Personen!

Zum Vergleich: 2007 - 70 Jahre später - lag der Durchschnitt bei 38 BesucherInnen, 2016 nur noch bei 27. (Übrigens: Wie viel sich inzwischen im kirchlichen Leben geändert hat und wie groß die Distanz zu zentralen kirchlichen Feiertagen mittlerweile ist, lässt sich an den stark zurückgegangenen Besucherzahlen für die Osterwoche 2016 ablesen: Karfreitag 15 (2007 noch 27), Ostersonntag 16 (2007: 23) und Ostermontag 9 (2007: 34) Personen. Den Erntedankgottesdienst besuchten im gleichen Jahr 57 (2007: 58) ObbornhofenerInnen.)

Zurück in die Jahrzehnte vor und nach 1937.
Zum Sonntagsgottesdienst wurde in nahezu jedem Haus mindestens eine Person "abgeordnet". In der Kirche gab es eine feste Sitzordnung, die sich nach den "Ständen" richtete: Die verheirateten Männer saßen auf der Empore (je älter, desto weiter oben), die unverheirateten Männer hatten ihren Platz unten unter der Orgel. Ältere Frauen saßen ebenfalls im Kirchenschiff im hinteren Bereich, jüngere Frauen rechts vorne. Ebenfalls vorne hatten die KonfirmandInnen und Vorkonfirmanden ihren Platz. Auch der Kirchenvorstand und die Pfarrfamilie hatten ihre festen Plätze.

Der Gottesdienst war ein "gesellschaftliches Ereignis", davor und danach tauschten sich die BesucherInnen aus: Über die neuesten Vorkommnisse im Dorf, Geschäfte wurden angebahnt, vielleicht die eine oder andere Mithilfe auf dem Feld vereinbart.

Die Küster hatten damals mehr Arbeit mit der Vorbereitung des Gottesdienstes: Fürs Glockenläuten genügte nicht wie heute ein Knopfdruck oder eine Programmierung der Glocken für das Tageszeitenläuten. Handarbeit war gefragt und Hilfe: Um die Seile von 3 Glocken zu ziehen brauchte es mindestens 2 Personen. Zudem gab es eine bestimmte Zeitspanne vor dem Gottesdienst ein (oder mehrere?) Vorläuten. Damit die GottesdienstbesucherInnen warm saßen, musste der in der Kirche stehende Ofen rechtzeitig angefeuert und mit Holz und Kohle bestückt werden.

Auch der Organist brauchte Hilfe, um die Orgel spielen zu können: Ein Blasebalg musste getreten werden, um den Wind für die Orgelpfeifen zu erzeugen. (Ab wann ein Elektromotor diese Arbeit übernahm, habe ich noch nicht herausgefunden.)

Die Gottesdienstdauer war nach allem, was ich bisher gehört habe, doch in der Regel länger als die heutige Dreiviertelstunde. So hat mir jemand erzählt, dass der Weihnachtsgottesdienst zum Teil zwischen 2 und 3 Stunden gedauert haben soll.

Taufen, Trauungen, Beerdigungen:
Auch die Anzahl der Taufen, Trauungen und Beerdigungen unterschied sich von den heutigen Zahlen.

So hat Pfr. Schäfer für das Jahr 1938 vermerkt:
"Geboren + getauft wurden 10 Kinder
konfirmiert wurden 13 Kinder
getraut wurden 3 Paare
beerdigt wurden 7 Personen"

Auch hier haben sich die Zahlen etwas verschoben.
Mit der Geburtenzahl hat auch die Zahl der Taufen abgenommen.
Einer standesamtlichen Hochzeit schließt sich inzwischen häufig keine kirchliche Trauung mehr an.
Die Zahl der Verstorbenen hat zugenommen. Erdbestattungen mit Sarg gibt es nur noch selten. Es überwiegt die Trauerfeier in der Kirche mit anschließender Urnenbeisetzung, meist noch auf dem Obbornhofener Friedhof, aber auch zeitversetzt dann und wann in einem Waldfriedhof oder auf einem Friedhof einer anderen Gemeinde.

Üblich waren Haustaufen:
D.h. die Kinder wurden im Elternhaus durch den Pfarrer getauft – etwa einen Monat nach ihrer Geburt. Dass es in Obbornhofen keinen Taufstein in der Kirche gibt, hat damit zu tun. Benutzt wurde stattdessen eine Taufschale, die der Pfarrer leicht transportieren konnte. Sie ist auch heute noch in Gebrauch.

Bis 1958 gab es wohl ausschließlich Haustaufen. Überliefert ist der weit verbreitete damalige Brauch, dass die Mutter erst nach der Taufe mit dem Kind das Haus verlassen durfte.
Seit 1958 – unter Pfr. Georg Schanz – gab es sowohl Haustaufen als auch Taufen in der Kirche (im Sonntagsgottesdienst der Gemeinde). Wobei im Lauf der Jahre die Zahl der Haustaufen allmählich ab- und die Anzahl der Kirchentaufen zunahm.
Ab 1971 – unter Pfr. Hotz – gab es nur noch die Taufe in der Kirche.

Die kirchlichen Trauungen unterschieden sich meines Wissens kaum von der heutigen Form.

Anders bei den Beerdigungen: Der oder die Verstorbene wurde bis zur Beerdigung zuhause aufgebahrt, wo die Familie, Nachbarn und Freunde Abschied nehmen konnten. Dort begann auch die Beerdigung: Die Dorfgemeinde sammelte sich am Haus bzw. im Hof. Wenn der Pfarrer mit seinem Beitrag fertig war, setzte sich der Trauerzug Richtung Friedhof in Bewegung. Der Sarg wurde in der Regel von Nachbarn getragen bzw. gefahren. Die Konfirmandinnen waren für das Tragen der Kränze zuständig. Die Konfirmanden-Jungs bildeten eine Postenkette (einer in Sichtweite des nächsten) bis zur Kirche und verständigten so den Küster, sobald sich die Trauergemeinde auf den Weg machte, damit er die Glocken läuten konnte, bis der Trauerzug an der Kirche eintraf. Nach dem Hinunterlassen des Sargs in das (von Hand ausgehobene) Grab, traf sich die Gemeinde in der Kirche zur Trauerfeier.

Konfirmation:
Ganz anders als heute ging es im damaligen Konfirmandenunterricht überwiegend darum, auswendig zu lernen: Psalmen, Bibelaufbau und -sprüche, Lieder, den Katechismus. So sollte der Inhalt des christlichen Glaubens vermittelt werden. Im Konfirmations-Jahrgang 1939 beispielsweise wurde von Pfarrer Philipp Schäfer ein "Konfirmandenheft" ausgegeben, das in der Gruppe zum Abschreiben weitergegeben wurde. Bei einer damaligen Konfirmandin wurde daraus ein 53-seitiges, eng beschriebenes Heft im DIN A 5-Format.

Der Konfirmandenunterricht wurde überwiegend in den Schulräumen gegeben. (Aus heutiger Sicht würde man kritisch nachfragen, ob Auswendiglernen und das Wissen um Glaubensinhalte schon einen Christen, eine Christin macht – ganz abgesehen von der Frage, ob die Jugendlichen auch alles verstanden, was sie lernten.)

Vor der Konfirmation gab es die "Vorstellung" der KonfirmandInnen in der Kirche in einem eigenen Gottesdienst: Vor der zahlreich versammelten Gemeinde saßen die Jugendlichen und wurden in aller Öffentlichkeit ausführlich abgefragt – eine lange Prüfung, der sie mit Gefühlen zwischen Lampenfieber und Angst entgegensahen - je nachdem, von welchem Pfarrer sie geprüft wurden, wie gut sie vorbereitet und wie "öffentlichkeitstauglich" sie waren. In der Gemeinde wurden Strichlisten geführt, wer wie oft "dran war".

Die Konfirmation selbst war im Leben der Jugendlichen ein viel stärkerer Einschnitt als heute: Kurz darauf war die Schulzeit zu Ende (auf weiterführende Schulen gingen nur wenige), die ersten Schritte ins Berufsleben wurden getan. Die Konfirmation markierte stärker den Eintritt ins Erwachsenenleben als heute. Übrigens: Wie heute saßen die KonfirmandInnen im Konfirmations-Gottesdienst vor dem Altar. Dazu musste früher ein Stuhl von zuhause mit in die Kirche gebracht werden...

Vor dem Konfirmandenjahr waren die Kinder ein Jahr "Vorkonfirmanden", der sonntägliche Gottesdienstbesuch war Pflicht.

Nach der Konfirmation gab es 1 bis 2 Jahre "Christenlehre". Die Teilnahme wurde erwartet.

Kirchenvorstand:
Das Kirchenvorsteheramt war ein ehrenvolles Amt, das mit hohem Ansehen verbunden war. Nur angesehenen Männern in "fortgeschrittenem Alter" war es zugänglich.

Auch das hat sich geändert: Seit September 2015 gibt es – mit Ausnahme des Pfarrers einen reinen Frauen-Kirchenvorstand, darunter 3 Frauen mit kleinen Kindern.

Gemeindegruppen, Gemeindehaus:
Ganz anders als heute gab es (außer dem sonntäglichen Gottesdienst) keine zusätzlichen Angebote für Gemeindegruppen. Kinder nahmen am Erwachsenengottesdienst teil (wobei Philipp Schäfer, von 1935-1951 Pfarrer in Obbornhofen, unter der Woche eine "Parrerstund" für Kinder abhielt. Genaueres ist mir jedoch leider nicht bekannt. Die Frau von Pfarrer Schäfer leitete den Frauenchor der "Schwarz-Weißen").

Für Gemeindegruppen gab es wohl schlicht und einfach keinen Bedarf.
Als Gründe vermute ich: Die Freizeit der Menschen war viel knapper bemessen. Die Gemeinschaft und Begegnung im Dorf war vollkommen ausreichend (damals begegnete man sich an viel mehr Orten als heute, wo Arbeitsstellen, Handwerk, Geschäfte und Einrichtungen wie die Post "ausgewandert" sind). Damals kannte wohl jede(r) Obbornhofener(in) alle anderen Obbornhofener(innen). Deshalb gab es auch bis 1973 keinen Bedarf für ein Gemeindehaus.

Auch eine eigene Öffentlichkeitsarbeit (z. B. Gemeindebrief) war nicht erforderlich. Die Abkündigung im Gottesdienst reichte aus.

Konfessionen und ökumenische Zusammenarbeit:
Zu- und Wegzüge gab es selten – die Menschen blieben in ihrem Dorf.
Katholische Dorfbewohner gab es nicht (auch wenn man über die "katholischen Kreuzköpp" anderswo herzog).
Wohl aber gab es bis in die dreißiger Jahre eine handvoll jüdische Familien und eine Synagoge in Obbornhofen.

Die katholische Konfession kam erst mit dem Zuzug der Vertriebenen nach dem Krieg nach Obbornhofen. Vorurteile und Abgrenzung zwischen Evangelischen und Katholischen gab es noch lange - Mischehen wurden viele Steine in den Weg gelegt.

Versorgung mit Pfarrern in Obbornhofen:
Bis zur Zusammenlegung der Kirchengemeinde Obbornhofen mit der Kirchengemeinde Bellersheim in den 70er Jahren gab es eine eigene Pfarrstelle im Dorf, wo der Pfarrer wohnte und arbeitete.
Bei der Zusammenlegung mit Bellersheim wurde das Pfarrhaus verkauft und der Dienstsitz des Pfarrers (und der ersten Pfarrerin in Obbornhofen: Erdmuthe Druschke-Borschel) wurde Bellersheim.

Wenn man aus Pfarrersicht einen Vergleich von damals und heute zieht, stellt man fest: Die Arbeit des Pfarrers war damals viel weniger aufgefächert und damit längst nicht so umfangreich wie heute, wo die Gemeindegliederzahl durch die kirchliche Zusammenlegung von Obbornhofen und Bellersheim höher ist und ganz neue Aufgabenbereiche hinzu gekommen sind wie z. B. "Öffentlichkeitsarbeit" (Gemeindebrief, Internetseite) verschiedenste Gruppen und Kreise, "Zielgruppengottesdienste" (wie der "Krabbelgottesdienst", Tauferinnerungs-Gottesdienst, Gottesdienst zum Konfirmationsjubiläum).

Zum Glück muss aber der Pfarrer und die Pfarrerin heute nicht mehr alles allein machen, sondern kann sich auf eine große Zahl von MitarbeiterInnen verlassen!

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